„Armut in einem reichen Land“ – der Armutsforscher Prof. Christoph Butterwegge im Gespräch

Veröffentlicht am 06.12.2022 in Veranstaltungen

Im Rahmen der Lobbacher-Gespräche – einer Vortrags- und Diskussionsrunde politisch interessierter SPD-Mitglieder und Freunde der Partei aus dem Kraichgau und dem kleinen Odenwald – fand am 30.11.22 eine Veranstaltung zum Thema „Armut in einem reichen Land“ statt.

Thomas Funk begrüßte die Teilnehmenden und der Moderator Reinhard Aldag führte kurz in das Thema ein. Er berichtete, wie 1980 in der reichen Stadt Zürich völlig unerwartet von der Öffentlichkeit Jugendunruhen ausbrachen, die unter dem Titel „Züri brännt“ europaweit bekannt wurden. Es sei daher eine viel größere Aufmerksamkeit für die sozialen Verhältnisse, auch in Deutschland, erforderlich.

Der Referent Prof. Christoph Butterwegge publizierte unter dem gleichnamigen Titel bereits 2009 ein Buch, das ihn über die Jahre hinweg als „Armutsforscher“ bekanntmachte und dessen Vorgeschichte zugleich Ausgangspunkt seines Vortrags war. Wurde er doch als Hochschuldozent Mitte der 1990er Jahre von seinen Lehramtsstudenten um Expertise zum Thema Kinderarmut gebeten, das in den Jahren nach der Wende sich insbesondere in den neuen Bundesländern ausbreitete.

Butterwegge registrierte, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, nicht zuletzt die der Journalisten, dann stieg, wenn es um Kinderarmut ging. Der emotionale Faktor war hingegen wesentlich geringer, entsprechend auch die Aufmerksamkeit der Medien, wenn es um Armut von Älteren ging. Das trug nach ihm insgesamt dazu bei, dass Armut in der Öffentlichkeit „verschleiert und verharmlost“ wird.

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Von Seiten der Statistik wird die Armut in Deutschland und Europa vielfach gemessen und Veränderungen berechnet. Zu einer breiteren Aufmerksamkeit führt dies jedoch offenkundig nicht, obwohl die Daten durchaus drastisch sind: Nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung gelten in Deutschland ca. 16,8 % der Bevölkerung als arm. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gilt als „armutsgefährdet“, wer weniger als 1.148 € je Monat zur Verfügung hat, dies sind rund 13,8 Mio. Menschen. Eine andere Kategorie trägt das Rubrum „absolute Armut“, die in der öffentlichen Wahrnehmung wohl eher mit Afrika verbunden wird.

In Deutschland werden ca. 678.000 Wohnungslose und rund 41.000 Obdachlose gezählt, die dadurch als von „absoluter Armut“ betroffen gelten. Diese Zahlen des Statistischen Bundesamtes sind jedoch vor der Pandemie erhoben worden. Mittlerweile kann man von einer deutlich höheren Zahl ausgehen, da Krisen stets die unteren Einkommensgruppen überproportional hart treffen. Wer beispielsweise vor der Covid-19-Pandemie als Kleinunternehmer tätig war, befand sich bereits in einer problematischen Einkommensgruppe, in welcher keine oder nur schwerlich Rücklagen geschaffen werden konnten. Folglich traf es diese Personengruppe bei einem Einkommensausfall besonders hart.

Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Krisengewinner, zu denen der Referent beispielsweise den Eigentümer der Unternehmen Lidl und Kaufland zählt. Nach Angaben des Wirtschaftsmagazins Forbes konnte Dieter Schwarz sein Vermögen während der Pandemie um 14,2 Mrd. US-Dollar vermehren, wobei er bereits zuvor 47,2 Milliarden US-Dollar als reichster Deutscher galt.

Insgesamt hat sich durch die Pandemie die ohnehin bereits sehr problematische soziale Ungleichheit verschärft und das eingangs vom Moderator Reinhard Aldag genannte „Zürich brennt“ erscheint vor diesem Hintergrund nicht ganz abwegig.

Der Referent Prof. Christoph Butterwegge berichtete weiter über sozialen Situation in Deutschland: Als „einkommensreich“ gilt nach dem 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, wer mehr als das doppelte des mittleren Einkommens erhält, das sind ca. 3.900 € netto je Monat. Durch diesen niedrigen Ansatz – wonach ein Studiendirektor bereits als „einkommensreich“ gilt – werde der eigentliche Reichtum jedoch völlig verschleiert.  Die extreme Polarisierung der Einkommen und Vermögen tritt dadurch nicht mehr hervor.

Insgesamt gilt, dass die Einkommenszahlen nicht wirklich aussagekräftig sind, sondern die dahinter stehenden Vermögenswerte. Sie sind statistisch schwerer zu erfassen, können relativ gut über ausländische Konten versteckt werden und werden durch das Steuersystem eher begünstigt. Soziale Ungleichheit in Deutschland ist eher Vermögensungleichheit als Einkommensungleichheit.

Nach Angaben des DIW besitzen 10% der Bevölkerung 67,3% des Nettovermögens. Das reichste Prozent besitzt 35,3% oder: 1 Promille (0,1%) der Bevölkerung besitzt 20,4% des Nettovermögens. Butterwegge erläuterte dies anschaulich: 45 Familien in Deutschland besitzen so viel Vermögen, wie die ärmerer Hälfte der Bevölkerung, also rund 40 Mio Menschen.

Da in der Krisenzeit die Vermögenswerte nicht gefallen, sondern eher gestiegen sind – man denke an die Immobilienwerte – verschärft sich diese Situation nochmals.

Die öffentliche Wahrnehmung sei noch immer von einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky 1953) und der Annahme einer Überwindung der Spannung zwischen sozialen Ober- und Unterschicht geprägt, während sich die gesellschaftliche Lage völlig veränderte.

Butterwegge ging auf die Ursachen der Ungleichheit ein und machte insbesondere die Deregulierung des Arbeitsmarktes in der Regierungszeit Gerhard Schröders aus. Im Zusammenhang mit der Einführung der Hartz-Gesetze ist der Niedriglohnsektor erheblich gewachsen und in dessen Folge die Altersarmut, da Einkommen und Rente eng verkoppelt sind. Das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ von 2003, meist kurz als „Hartz IV“ bezeichnet, wurde zwar kürzlich durch das „Bürgergeld“ abgelöst, jedoch weiterhin ist die soziale Lage für die Hilfebezieher  sehr problematisch. Butterwegge machte deutlich, dass seinerzeit durch die Umstellung zugunsten der Hartz IV-Regelungen sich die Kinderarmut  in Deutschland praktisch verdoppelte.

Einen weiteren Beitrag zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit trug die Steuerpolitik der letzten Jahrzehnte bei. Beispielsweise die Absenkung der Körperschaftssteuer, Abschaffung der Vermögenssteuer u.a.m.

Ein Baustein zur Entgegnung der Situation sollte eine deutliche Erhöhung des Mindestlohnes sein, dessen Steigerung auf 12 € unter den Bedingungen der Inflation keine Verbesserung der Lage der Leistungsbezieher sei. Weiterhin: Minijobs sollten in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überführt werden, die Tarifbindung solle durch bundesgesetzliche Regelungen (Allgemeinverbindlichkeitserklärung) gestärkt werden. Die Ausweitung der Einzahler in das Rentensystem, also auch Beamte und Selbständige, würde die Finanzierungsprobleme der Rentenkasse lindern und einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten (siehe hierzu: „solidarische Bürgerversicherung“).

Er forderte am Schluss seines Vortrags eine Rückbindung an die Sozialpolitik der Ära Willy Brandt, die tatsächlich als Verbesserung der Lebenssituation bewirkte, und auch so wahrgenommen wurde. Ein enormer Zustrom auch der jüngeren Bevölkerung in die SPD war die Folge.

In der anschließenden Diskussion ging es u.a. um die Frage, ob eine Minderheitsregierung (ohne FDP) das bessere Modell gewesen wäre, das weniger Kompromisse zur Folge gehabt hätte. Weiterhin wurde die Sorge vorgebracht, dass die Politik vor übermäßigem Reichtum kapituliert und daher die Politik wirkliche Veränderungen nicht angehen kann.

Aus Sicht des SPD-Ortsvereins Mühlhausen, Rettigheim und Tairnbach sollte die politische Debatte um die Zukunft des Sozialstaates fortgeführt werden. Auf der Grundlage der Beschreibung der sozialen Situation sollte die Idee des Sozialstaates und das sozialdemokratische Verständnis von Freiheit und Gerechtigkeit klarer bestimmt werden. Schließlich sollten möglichst konkrete Schlussfolgerungen für die Kommunalpolitik gezogen werden. Sie werden gegenwärtig in den Themen Wohnungsbau, Jugend und Freizeit, Umwelt und Klima sowie Gesundheit und Pflege erarbeitet. Beides hat übrigens der SPD-Kreisverband im Oktober diesen Jahres auf dem Parteitag in Neckargemünd aufgezeigt!

Für die SPD: Michael Mangold

 

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